Das Zollamt in Mersin
Die
schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
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Roman
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DAS
ZOLLAMT IN MERSIN
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Schakir Pascha Flughafen
in Stadt Adana. Genannt nach dem damaligen osmanischen Gouverneur. Unser Vogel stand endlich still. Das war mein erster Flug. Anscheinend habe ich keine Flugangst. Außerdem hat er nicht lang gedauert und ich war eher an Ruhi Su neugierig. Weil er an der Fensterseite gesessen ist, habe ich auch kaum etwas von draußen gesehen. Die Tür geht auf. Die Wandertreppe ist bereits montiert. Einige Passagiere steigen aus. Ich deute mit einer Handbewegeng Ruhi Su seinen Vorrang. Unten ist ein reger
Betrieb. Manche Flugzeuge warten, manche starten, manche landen. Einige
Männer laufen, verschiedenartige Gefährte, die ich nie vorher
gesehen habe, fahren herum. Im Terminal nehme ich von Ruhi Su Abschied. Keiner schaut mich an. Keiner fragt mich etwas. Ich bin draußen. Großer Parkplatz. Autobusse, Autos, sogar Pferdewagen und Traktoren. Meine Augen suchen meinen Vater. Ganz vorne steht ein Militär-Jeep. Warten die Soldaten auf mich? Haben sie meinen Vater bereits verhaftet? Neben dem Jeep steht ein uniformierter Junge. Seine Uniform ist aber nicht scheiß-grün, sondern dunkelgrau. Zollamt! "Sind sie der
Sohn vom Zolldirektor?" Ich gehe zum Jeep. Wir schütteln die Hände. Er macht die Vordertür auf. Ich steige ein. Er geht nach hinten. Auch der Chauffeur
ist ein uniformierter Junge. "Wie war die Flugreise?", fragt
der Chauffeur. Soll ich es sagen
oder nicht? "Wie heißt
du?", sage ich. Wo bin ich gelandet? "Mein Direktor hat viel von dir erzählt. Wir sind stolz auf dich. Dein Vater hat gesagt, dass der Deniz Gezmiş dein Freund ist, stimmt es?" Sie kennen Deniz? Autobahn. Mittlerweile nicht fahren, sondern fliegen wir. Wir machen alle Fenster auf. Der Fahrtwind bringt unsere Haare zum fliegen und verreibt unsere Gesichter wie ein Schleifpapier. Mustafa fang mit einem Zilgit an (Kurdisches Freudenthriller-Geschrei). Ich beteilige mich nicht. Ich bin der Botschafter. Fahrtwind, hohe Geschwindigkeit Ich kann kaum etwas erkennen. Brachland Baumwoll-Plantagen. Hin und da Fabriken ohne rauchende Schlote oder Lagerhäuser? "Was sind das?"
Um die Fahrtgeräusche zu übertönen schreie ich. So etwas habe ich
bisher nie gesehen. Aber auch steinige
nicht bebaute Felder mit vereinzelten Bäumen. Nach einer langen
Fahrt sind wir in Mersin. Niedrige Häuser
Palmen
Großer Republik-Park. Großer Atatürk auf dem Podest. "Wir sind da!", sagt Hüseyin und parkt den Jeep sehr geschickt und schnell. In dem Moment, wo der Fahrtwind aufhört, umhüllt meinen ganzen Körper die große Hitze. Ich werde fast ohnmächtig. Es hat vierzig Grad. Unerträglich. Wir stehen vor einem
kleinen, einstöckigen Haus hinter einem kleinen Garten. |
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Zolldirektion
in Istanbul, 1935
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Vorher war mein Vater Chef der "Bearbeitung-Services" in der Zolldirektion Istanbul. Das war ein riesiges Gebäude aus Stein. Wahrscheinlich gebaut von den Deutschen im neunzehnten Jahrhundert. Sein großes Zimmer war hinter einem schmalen Korridor auf dem dritten Stock. Man konnte aus dem riesigen Fenster den ganzen Hafen sehen. Er hatte zwei erfahrene Beamten als Assistenten und eine Sekretärin mit großer Remington Schreibmaschine. Soll diese Hütte hier eine Zolldirektion sein? "Hier ist dein Vater!", sagt Mustafa und geht von der offenen schnörkeligen Eisenprofiltür hinein. Links und rechts von der Tür ist eine etwa sechzig cm. hohe Steinmauer. Auf der rechten Seite liegt ein uniformierter Beamte am Rücken, seine Uniformkappe liegt auf seinem Gesicht, trotz Dämmung der Kappe hört man sein Schnarchen sehr stark. Er wacht auf, setzt
seine Kappe auf, reibt seine Augen und sagt: Wir gehen hinein. Rechts und links sind je ein großer Palmenbaum. Darunter ist eine seit langem nicht gepflegte Wiese, oder besser gesagt Brachland. Auf der Hausfassade steckt eine staubige türkische Fahne und macht Siesta. Über der massiven offenen Holztür ist eine runde vom Schildermaler bemalte Holztafel: "Republik der Türkei Zollwache Direktion Mersin." Die Ölfarbe auf dem Schild ist derart gesplittert, so dass das Schild wie von einem Spinnennetz umhüllt ausschaut. Wir gehen ins Haus. Sehr starke Steinmauern. Sobald wir drin sind, sehe ich nichts mehr. Drinnen ist es dunkel wie in der Nacht, dafür aber unglaublich kühl. Wir befinden uns in einem kleinen Vorraum. Ich brauche eine Weile, bis meine Augensich an das elektrische Licht gewöhnen. Mustafa geht von der offenen Tür links hinein. Wir folgen ihm. Ein riesiger Schreibtisch vom 19. Jahrhundert. Breiter als zwei Meter. Die Osmanen nannten es "das Schreibhaus". Davor zwei nackte Holzsesseln. Auf dem Tisch ist eine grüne Filzdecke gespannt wie bei einem Billardtisch. Darauf eine dicke Glasplatte. Auf der Glasplatte sitzt halb liegend ein junger Mann ohne Uniform und raucht eine Zigarette. Hinter ihm ist eine neue Reiseschreibmaschine, wahrscheinlich gekauft von meinem Vater. Wie der Junge uns sieht, springt er herunter. Hinter ihm sitzt mein Vater und liest die Tageszeitung "Cumhuriyet (=Republik)". Er ist ohne Uniform, ohne Sakko, ohne Krawatte aber mit einem schneeweißen Hemd. Sein Hemdkragen ist weit offen und man sieht seine Brusthaare. Er faltet seine großformatige Zeitung sorgfältig zusammen, legt sie auf dem Tisch. Nimmt seine Brille herunter und steht langsam auf und kommt langsam nach vorne. "Endlich bist du da!" Ich nehme seine rechte Hand in meine rechte Hand, bücke mich und will als Zeichen des Respekts seine Hand küssen. Er richtet mich auf
und als Zeichen der Gleichstellung schüttelt er demonstrativ meine
Hand. In dem Moment, wo
wir uns ein bisschen voneinander trennen, kommt der Junge, der auf dem
Tisch gelegen war, zu mir. "Genosse Direktor!",
sagt Ali, "Kommt dein Sohn direkt von Istanbul?" Hinter meines Vaters uraltem, von Würmern zerfressenem Chefsessel aus Holz hängt ein Atatürk-Foto an der Wand. Ein jüngerer Atatürk in Offizier-Uniform. Das Foto hat immerhin einen Holzrahmen. Wahrscheinlich war früher auch ein Glas darauf. Der verstaubte Atatürk ist durch Fliegenkot der Jahrzehnte fast unerkenntlich geworden. Ich sehe keinen Aktenordner auf seinem Schreibtisch. Auch an der Schreibmaschine sind keine Papiere mit dazwischen liegenden Carbon Kopien eingespannt. Jemand in Zivil, fast so alt wie mein Vater, aber nur so groß wie bis zu seinen Schultern, kommt herein. Er hat eine Schaufel und einen kleinen Besen in der Hand. "Ich habe hinten ein bisschen sauber gemacht." Er hat einen sehr starken kurdischen Akzent. "Idris Bey!"
sagt mein Vater. "Er ist mein erster Beamte. Am Anfang waren wir
hier allein. Er ist auch Kurde aber sunnitisch." Auf seinem Pokergesicht ändert sich nie etwas und der kleine Winkel an seinem Mund lächelt wie immer. Alle lachen. Mein Vater lacht nie. "Ich mache euch einen starken Tee!", sagt Idris Bey und geht hinaus. Wie wir unseren Tee
ausgetrunken haben, sagt mein Vater: Republik-Kebap? Ist es das, was der Atatürk von der Republik verstand?
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Was bisher geschah |
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