Frühstück bei Sabetay
Die
schönste Daphne aller Zeiten und der Flüchtling
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Roman
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FRÜHSTÜCK
BEI SABETAY
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R(epublik
der) T(ürkei)
GRÄTZEL ERENKÖY SICHERHEITSKOMMISARIAT KOZYATAGI Betrifft: Günes Sahiner Sackgasse Rizabey No:2 Sie werden gebeten zum Polizeirevier Kozyatagi zu kommen. Name (unleserlich) |
Istanbul ist für mich viel zu heiß geworden. Zuerst kommen an unser Haus ahnungslose Polizisten von dem nächstgelegenem Polizeirevier. Sie sind freundlich und hinterlassen Hand geschriebene Einladungszetteln für mich. Dann kommen andere Polizisten mit Untersuchungsbefehlen und stellen das Haus auf den Kopf. Dann kommen Soldaten. Stechen meine Bettmatratze mit Bajonetten durch, mit der Hoffnung, mich, wenn nicht dann Waffen, wenn auch nicht, verbotene Bücher erwischen zu können. Ich schlafe jede Nacht bei einem anderen Freund, aber ich sehe, dass sie große Angst haben mich zu beherbergen und gehe in der Früh weg. Ich habe absolut keinen Kontakt mehr mit meinen Genossen. Ich bin sicher, dass sie irgendwo kämpfen und mich sehr gut brauchen können. Aber wo sind sie? Die vollkommene Machtlosigkeit macht mich krank. Medien sind unter Zensur. Wenn mehr als vier Personen auf der Straße zusammentreffen, werden sie verhaftet. Wenn einer davon so bekannt ist wie ich, wird er erschossen. Ich bin "der" Drucker. Aber ich habe keinen Zugang zu der primitivsten Druckmaschine. Ich riskiere erkannt zu werden und kaufe Schreibpapier, Filzstift, Schere und Gummiarabikum. Ich sitze den ganzen Tag auf einer Wiese. Schneide die Papiere in kleine Schnipseln. Schreibe darauf "Nieder mit dem Faschismus" und ähnliche Sachen. Es ist eine verdammt langweilige Arbeit. Danach werden alle Schnipseln auf der Rückseite mit Gummiarabikum versehen. Auf der anatolischen Seite von Istanbul kenne ich einige Sympathisanten. Ich gehe zum nächsten Telefon-Kabinett. Zum Telefonieren braucht man "Jetons" (= spezielle Münzen der Post). Ich habe wenig davon. Ich erreiche ein paar Leute und bitte sie, die Botschaft weiter zu leiten. Zehn Uhr am Abend. Wir treffen uns vor dem Bahnhof Kartal. Es dürfen auf der Straße nicht mehr als vier Leute zusammentreffen aber kein Polizist ist zu sehen. Zwölf Freunde sind gekommen. In Kartal ist eine
große Zementfabrik. Rundherum Stacheldraht. Nach einer längeren
Suche finde ich eine fehlerhafte Stelle und bearbeite das Geflecht zu
einem Schlupfloch. Wir sind alle durch. Fünf Uhr in
der Früh. Tausende Zetteln sind geklebt. Wir schlupfen wieder hinaus. Stille. Keiner sagt irgendetwas. Ich zünde mir eine Zigarette an. Die Zigarette klebt an meiner Zunge. Meine Ohnmacht bedrückt meine Brust wie eine tropische Riesenschlange. Ich halte es nicht mehr aus. Diese wunderbaren Burschen sind meinem Ruf gefolgt und gekommen. Sie könnten hier sterben oder verletzt werden. Keiner beklagt sich. Was soll ich mit ihnen machen? Ich habe keine Möglichkeit, sie zu bewaffnen. Abgesehen davon, ob sie das wünschen. Wenn wir bewaffnet sind, weiß ich nicht, welches Angriffsziel ich ihnen zeigen soll. Um jede Ecke warten
die Panzer, Soldaten, Polizeiautobusse. Sie anzugreifen wäre Selbstmord. Ich stehe mühsam auf. Vor mich hin zum Boden schauend gehe ich langsam in die Richtung Eisenbahn weiter. Was kann ich machen? Die Faschisten haben mehr als genug Genossen bereits ermordet. Streikende Arbeiter, protestierende Bauern werden erschossen. Ich kann meine Ohnmacht vor dem Faschismus nicht akzeptieren. Ab jetzt hilft weder Zettel kleben noch Rosenkranz beten. Jetzt ist die einzige Möglichkeit des Widerstands bewaffneter Widerstand. Genosse Mahir Çayan hat mich bereits davon überzeugt, dass wir unbedingt eine Partei gründen müssen. Ich erfahre inzwischen, dass er und einige Genossen bereits die THKP (Volks Befreiung Partei der Türkei) gegründet haben. Fast gleichzeitig gründen Deniz Gezmiş und einige Genossen die THKC (Volks Befreiung Armee der Türkei). Ich kann mir vorstellen, dass inzwischen auch andere Gruppen sich formiert haben und bewaffneten Widerstand leisten. Ich weiß aber darüber nichts. Taner Kutlay und ich sind nicht nur Soldaten der Revolution, sondern auch gut gebildete Marxistische Theoretiker. Genosse Mahir und seine Freunde können uns sicher brauchen. Nach einer langen Diskussion beschlossen Taner und ich, uns an die THKP anzuschließen. Inzwischen habe ich mit all diesen genannten Genossen keinen Kontakt mehr. Die Faschisten haben einen hochentwickelten Geheimdienst mit mehr als fünfzig Jahre Erfahrung. Wir haben nicht einmal ein funktionierendes Kommunikationsnetz unter uns selbst. Ich muss unbedingt Taner finden. Aber wo? Bahnhof. Kein Mensch ist zu sehen. Ich warte auf den ersten Zug. Die Wagons sind miteinander verbunden. Oben haben beide Wagons je eine freischwebende und klappernde Stahlplatte in Freiluft. Die nennt man "Sahanlik". Ich stehe auf der Sahanlik und rauche. Immer wieder streut der Wind auf mein Gesicht verglühten Kohlenstaub. Nach einer Stunde bin ich im Bahnhof Haydarpaşa. Ich gehe raus, auf die Straße. Mit großen Schritten laufe ich in die Richtung Hafen von Kadiköy. Ich warte auf das erste Schiff nach Istanbul (europäische Seite). Nach zwei Zigaretten ist das Schiff da. Zweite Klasse. Ich setze mich auf eine Holzbank neben dem Gang (Ich saß entweder nie oder immer fluchtbereit). Ein paar Zuwanderer aus Anatolia, samt ihren gerollten Bettdecken am Rücken, um im Freien zu schlafen. Ein paar Frühschicht-Arbeiter. Ein paar Beamte mit weißen Kragen. Kein bekannter. Nicht einmal der Rasierklingen-Verkäufer mit seinem Brusttablett. Karaköy-Hafen. Kein bekannter. Überall Polizisten und Soldaten. Aber keine Ausweißkontrolle, solange man nicht auffällt. Meine Augen brennen. Mein Magen gurrt. Ich muss dringend etwas essen und schlafen. Ich habe keine Lust und keine Kraft heute wieder in einer Baustelle zu pennen. Autobus. Noch einmal
Autobus. Dann ein paar Kilometer zu Fuß. Ich gehe zu Sabetay Varol. Mein Vater hatte mich überzeugt, dass jeder sein Schicksal selbst schreibt. In meinen alten
Jahren habe ich meine Meinung geändert: 1453 besetzt der Osmanische Sultan Mehmed II. die von ihm sehr begehrte Stadt Konstantinopolis voller Gold, Silber und Seide. Gold, Silber und Seide werden bald geraubt. Die wunderschönen, meistens zweistöckigen Byzantinischen Holzhäuser wurden angezündet. Der Großteil der Bevölkerung wurde massakriert. Mehmed II hält
den Rauch und den Verwesungsgeruch der Leichen nicht mehr aus und flüchtet. Er beginnt, für
seiner Hauptstadt Bevölkerung zu suchen. 1474 wurde Isabella Königin von Kastilien. 1492 eroberte sie als Endpunkt der "Reconquista" den Emirat von Granada. Somit wurde die 700 Jahre dauernde Herrschaft der muslimischen Mauren in Spanien beendet. Mit dem Alhambra-Edikt vom 31. März 1492 wurden alle Juden gezwungen, entweder zum Christentum überzutreten oder das Land zu verlassen. Diese spanischen Juden wurden als "Sephardim" benannt. Jetzt mussten die
Juden entweder zum Katholizismus konvertieren oder das Land verlassen.
Zum Katholizismus konvertierende Juden erwartete die Inquisition. Massenmörder Mehmed II sucht verzweifelt Bevölkerung für seine entvölkerte Metropole. Er holt vor allem Griechen, Armenier und Juden von anderen Landesteilen zum Teil durch Zwang nach (mit dem neuen Namen) Kostantiniyye. Der Leibarzt und Finanzberater von Mehmed II. ist ein Jude namens Iacopo Gaeta (=osmanisch Hekim Yakub). Mehmed II schätzt das Volk des Buches sehr hoch. Sie kann er als Gesandte, Dolmetscher und Spione gegen die lateinische Welt Europas einsetzen. Sie werden von verschiedenen Steuern befreit. Ihre Synagogen blieben unberührt. Ab jetzt werden in den neu gebauten öffentlichen Bädern ein eigenes Abteil für ihre rituellen Waschungen eingebaut. 1481 starb er. Sein Sohn Bayezid II. kam an den Thron. 1492 erfuhr er, dass dieses höchst begehrte Volk aus Spanien vertrieben wird. Er lud sie durch verschiedene Kanäle ein, nach "Kostantiniyye" zu kommen. So begann das Flüchtlingsdrama des fünfzehnten Jahrhunderts am Mittelmeer. Die armen Sepharden versuchen mit Kind und Kegel nach Kostantiniyye zu kommen. Boote, nicht mehr seetaugliche Schiffe, alles, was sie ergattern konnten und halbwegs schwimmen konnte, wurde mit spanischen Juden überfüllt. Wie viele starben
unterwegs, wie viele landeten am Grund des Mittelmeers, wie viele kamen
lebendig zum Osmanischen Reich? Ich habe keine Statistiken. Aber die
städtische Kultur des osmanischen Kostantiniyye ist ohne Sepharden
unvorstellbar. So kamen die Ahnen von Sabetay Varol nach Istanbul. Natürlich konnten sie nicht ahnen, dass im Jahr 1944 in der sogenannte "Republik" der Türkei Hab und Gut ihrer Nachfahren "türkisiert" und die Besitzer im Konzentrationslagern umgebracht werden. Das geschah vier Jahre vor meiner Geburt. Ich liebe und singe die städtischen Volkslieder von Istanbul. Ich weiß, dass sie von sephardischen Juden stammen. Aber die Juden selbst waren bereits zur meiner Kindheit Rarität. Sabetay Varol war der Sohn einer der Wenigen übriggebliebenen Juden in Istanbul. Ich habe ihn während der Demonstrationen gegen die sechste Flotte der USA, die unterwegs nach Vietnam im Istanbuler Hafen halt machte, kennen gelernt. Er war in meinem Alter, Student, sehr intelligent und gebildet. So zählte er bald zu meinen hochgeschätzten Freunden. Ich hoffe, dass er die leidvolle Geschichte seiner Ahnen kennt und einen Asyl suchenden wie mich nicht zurückweisen wird. Ich drücke den Knopf der Türglocke. Sabetay macht die
Tür auf. Ich erzähle
meine Geschichte. Während ich hastig mein köstliches Mahl hinunterstopfe bringt Sabetay ein Kuvert. Er ist auch mein Postkasten. Ein paar FreundInnen helfen mir damals als meine Postadresse, unter altmodischen muslimischen Frauennamen. Der Absender ist
amtlich: "Zollwachedirektion Mersin". Mein Vater war seit 30 Jahren Beamter in der Zollwachedirektion Istanbul. Seit Jahrzehnten war er Chef der "Bearbeitung Services". Also war er seit langer Zeit Anwärter des Direktorposten. Und der Direktorsessel ist inzwischen mehrmals vakant geworden. Jedes Mal kam ein über das Zollamt ahnungsloser, dafür aber hochrangiger Armeeoffizier mit einem sehr großen Hintern und füllte den Sessel besser aus als mein Vater. Vor ein paar Monaten
geschah ein Wunder: Gerade die faschistischen Militärputschisten
ernannten ihn zum "Zollwache Direktor". Aber leider nicht
in Istanbul, sondern in der kleinen Hafenstadt Mersin. Im Kuvert ist ein kleines Heft, ein Flugticket nach Adana. In Mersin gibt es keinen Flughafen. Adana ist die nächste große Stadt. Wenn ich mit dem Zug nach Mersin fahre, würde ich auf der langen Reise sicher kontrolliert und verhaftet. Ein Flugticket kann sich aber nur ein Politiker oder Geschäftsmann leisten. Und ein Zettel mit der Handschrift: "Ich warte!" Darunter die unnachahmliche
Unterschrift meines Vaters: Zweimal gegenüber einander (eines verkehrt)
gestellte Buchstaben "Djim" des osmanischen Alphabets mit
sehr großem Schwungstrich.
Sabetay setzt sich
ans Telefon. "Heute Abend einundzwanzig Uhr, in dem Park, den du kennst." Dann sagt er unmittelbar
weiter: Sabetay holt eine Steppdecke. Ich lege mich auf den Kautsch und schlafe wie die Siebenschläferin. Wie ich angefangen
habe, diese Episode zu schreiben, habe ich eine Internet Recherche durchgeführt.
1972 wurden unter der faschistischen Diktatur einige Genossen nach Palästina
gefahren, um eine Guerilla Ausbildung zu bekommen. Sie kämpften
gegen die Besatzungspolitik der Israelitischen Regierung. Genosse Sabetay
war wahrscheinlich der einziger Jude in dieser Gruppe.
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Post
skriptum: 1) Hier vorkommende Namen sind nicht erfunden, sondern echt. Einige der erwähnten Personen haben die Faschisten brutal ermordet. Sie leben als Helden des Widerstands im Gedächtnis der Völker der Türkei. Mit Liebe und respektvoller Verneigung vor ihrer Erinnerung. 2) Ich hoffe, dass Genosse Sabetay noch lebt. Falls er zufällig diese Zeilen liest, bitte ich ihn um Verzeihung, wenn einiges nicht ganz stimmt. Es sind fünfzig Jahre, dass ich nicht mehr in dieser Hölle lebe, und nicht mehr Kontakt habe mit meinen alten Freunden. Lieber Sabetay, ich habe dich sehr lieb in meiner Erinnerung. |
Was bisher geschah |
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